KLEINE GESCHICHTEN – Brita Link: „Der Weg zum Friedhof“

KLEINE GESCHICHTEN
Kurzgeschichten Kreuznacher Autoren

Brita Link: „Der Weg zum Friedhof“

Das Haus mit meinem Vorgarten liegt auf dem Weg zum Friedhof.

Ich kann die Uhr nach ihr stellen. Punkt 14 Uhr öffnet sich im Haus gegenüber jeden Samstag die alte schwere Haustür mit den Jugendstil-Elementen. Frau Schmidt schickt sich an, den steilen Weg zum Waldfriedhof hoch zu steigen.

In der linken Hand trägt sie einen kleinen Stoffbeutel mit roten Öllämpchen, einer kleinen Hacke und drei Blumen, deren Blütenköpfe aus der Tasche lugen. drei Blüten – mehr kann sie sich bei ihrer knappen Rente nicht leisten. Ihre rechte Hand hält seit zwei Jahren einen Gehstock fest umklammert. Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß. Das Alter hinterlässt Spuren!

Wir grüßen uns freundlich, wenn sie an meinem Haus vorüber geht und ich im Vorgarten werkele. Manchmal – bei schlechtem Wetter winke ich ihr vom Fenster aus einen Gruß zu. Ab und zu bleibt sie bei mir stehen, um zu verschnaufen. Die Luft….! Bei schwülem Wetter atmet sie schwer, lässt sich aber an keinem Samstag von dem Weg zu ihren Lieben abhalten.

Selbst bei Schnee stapft sie, dicke Wollsocken über die festen Schuhe gezogen, mit Stock, Öllämpchen und Blumen versehen, den Berg hinauf.

Irgendwann, als sie bei mir im Sommer auf der Vorgartenbank eine kleine Pause einlegte, hatte sie es mir erzählt.

Johann, Ihr erster Ehemann und strahlender Held, eine große stürmische Liebe, war verwundet aus der Gefangenschaft zurückgekommen und die Kriegsverletzungen so schwer, dass er bald seinem Leiden erlag. Sie war dankbar, dass sie sein Grab in der Nähe hatte, es besuchen und pflegen konnte. Er war wenigstens noch nach Hause gekommen, nicht irgendwo im fernen Land auf dem Feld geblieben.
Hans, ihrer beider Sohn, brauchte nun ihre ganze Kraft. Sie schuftete in fremden Haushalten, verdiente so den Unterhalt für sich und den kleinen Blondschopf. Er machte ihr viel Freude, in ihm lebte Johann weiter.

Karl lernte sie nach einigen Trauerjahren kennen. Er war ein ruhiger Mensch, kein Draufgänger. Verlässlichkeit war seine Stärke, und sie sehnte sich nach einer starken Schulter. Zwei Buben gebar sie ihm. Josef heiratete, zog weit weg in den Norden. Ab und zu besuchte er sie mit seiner Frau und den Kindern auf der Durchreise in den Urlaub.

Clemens, der Jüngste, verstarb in früher Jugend bei einem Motorradunfall. Karl litt sehr unter dem Verlust seines Sohnes. Er wurde depressiv, krank an Leib und Seele. Die Ärzte konnten ihm nicht helfen. Er folgte Clemens. Es waren harte Schicksalsschläge, die verkraftet werden mussten. Hilflos zuckte Frau Schmidt mit den Schultern, und ihre Hände zitterten.

Daher rühren also die beiden scharfen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln.

Das Leben gehe aber weiter. Und so besuche sie jeden Samstag, wenn sie ihre wöchentliche Hausarbeit hinter sich hat, den Friedhof. Nun habe sie Zeit mit ‚ihren Männern‘ wie sie sie nannte, einen Plausch zu halten. Zuerst mit Karl und Clemens am Familiengrab. Sie erzählt ihnen von ihren Sorgen und Nöten und stellt Fragen, auf die sie keine Antwort erhält.

Zwei Blumen legt neben einem brennenden Öllicht ab, ehe sie sich verabschiedet.

Zu Johann geht sie zuletzt und entzündet auch hier ein Öllicht. Die letzte Blüte – wenn sie ehrlich ist auch die Schönste – schenkt sie ihm. Er ist ihr strahlender Geliebter geblieben, der ein Teil ihres Herzens mit in die Ewigkeit genommen hatte. Was waren sie jung und verliebt, hatten den Kopf voller Pläne .. und dann dieser schreckliche Krieg, der alles zunichte machte.

Wie wäre wohl ihr beider Leben ohne diese sinnlosen Kämpfe verlaufen?

Sie ist dankbar für die kleine halb vermooste Bank in der Nähe. Die alte Frau hat Zeit, nichts drängt zur Eile. Die Gedanken wandern, – wandern auch zu ihrem blonden Hans. Er war so lebenslustig, begierig auf Abenteuer und ihrem Johann so ähnlich. Der Gedanke schmerzt.

Frau Schmidt sprach mit mir nur einmal über Hans – am 1. November letzten Jahres – ich weiß es noch genau. Ein drittes Öllicht war aus ihrer Tuchtasche gekullert, als sie ihr aus der Hand rutschte. Ich hob es auf und reichte es ihr.

Als ich fragend hoch schaute, steckte sie die rot umwandete Kerze hurtig in die Tasche zurück. Sie sei für ihren Hans, sie habe vergessen sie zu Hause aus dem Beutel zu nehmen! Hans…wo mochte er wohl sein? Seit Jahren hat er sich nicht bei ihr gemeldet.
Frau Schmidt sorgt sich um ihn. Wie sie bei Nachforschungen erfuhr, sei ihr Junge zur Fremdenlegion gegangen. An jedem 1. November zünde sie für Hans ein Licht im Wohnzimmerfenster an, damit er den Weg nach Hause zurück finde.

Die alte Frau schien gebeugter, als trage sie eine zu schwere Last. Sie stieg den Weg weiter zum Gottesacker hinauf, blieb ab und zu stehen. Ich sah ihr nach, und ein paar Minuten vernahm ich noch das „Tack-Tack“ ihres Gehstockes. Der scharfe Herbstwind wirbelte die verfärbten Blätter hoch. Ich schaute ihr noch eine Weile nach, verlor sie aber in der Wegbiegung aus den Augen.

Die Sache mit Hans beschäftigte mich. Ich hoffte inständig, dass die Mutter ihren Sohn noch einmal in die Arme schließen könne.

Am Abend sah ich beim Herunterlassen der Rollläden zu Frau Schmidt‘s Haus hinüber und konnte ihre Konturen hinter dem dunklen Fenster erkennen. Die Mutter saß in ihrem Sessel. Ihr Herz wartete und ihr Ohr lauschte hoffend auf vertraute Schritte. Keine Lampe brannte im Inneren des Hauses – nur ein flackerndes rotes Öllicht leuchtete draußen von der Fensterbank in die Dunkelheit.

 

DIE AUTORIN:

BRITA LINK
Als Sonntagskind nach dem Krieg in der Privatklinik
Martha Petschel/Oranienstr. geboren.
In Zeit der „Elisabeth Charlotte Schule, heute LiHi, entdeckte sie die Freude, Geschichten zu entwickeln und ihre Phantasie dafür.
Während ihrer Zeit bei Boehringer Ingelheim schrieb sie Sketche für Abteilungsfeste und schon kleinere Geschichten. Briefschreiben waren das große Hobby.
In der langen Phase als „Chaosmanagerin einer fünfköpfigen Familie“ war Schreiben nicht möglich. Heute, im Ruhestand, genießt sie die Freiheit, zu schreiben, wann immer sie Lust hat. Die besten Geschichten entstehen in Südfrankreich, ihrer zweiten Heimat.
Es macht ihr Freude, wenn sich eine Geschichte, gerade angefangen zu schreiben,
verselbständigt, wenn die Ideen nur so aus dem Kopf „purzeln“.