KLEINE GESCHICHTEN – VERWUNSCHENE WEIHNACHTSZEIT

 

KLEINE GESCHICHTEN
Kurzgeschichten Kreuznacher Autoren

VERWUNSCHENE WEIHNACHTSZEIT
von: Änne Fuhrmann und Brita Link

 

Herr Wild war traurig. Seit Wochen war die Kundschaft ausgeblieben. Die Zeiten waren schlecht, und die Bürger mussten für ihre Lebensmittel hart arbeiten.

Es fehlte ihnen die Zeit zum Spaziergang an der Nahe entlang über die Roseninsel wie sie es früher getan hatten. Das Geld reichte hinten und vorne nicht. Selbst gut betuchte Kurgäste, die sonst gerne an seinem Milchhäuschen eine Rast einlegten, sich an der frischen Milch, der süßen Sahne und den leckeren Eissorten labten, waren selten geworden.

Und dabei hatte sich Herr Wild so viel Mühe gemacht, das ehemalige alte Pumpenhaus in einen blitzsauberen Milchladen zu verwandeln. Lange Jahre war das Geschäft gut gelaufen, aber jetzt..?

Nicht allein das Finanzielle machte ihm Sorgen. Nein, auch sein Rücken bereitete Beschwerden. Die Milchkannen waren sehr schwer und eine Hilfe konnte er sich nicht leisten.

Als er am Abend wieder mal angesichts der vollen Milchkannen seufzte, weil seine Gicht ihm zu schaffen machte, da tauchten sie auf, die kleinen Kerlchen mit den schwarzen Baskenmützen und den kunterbunten Hosen und Jäckchen. Herr Wild hatte sie schon des Öfteren auf der gegenüber liegenden Naheseite beobachtet, wenn sie unter den Bäumen irgendwelchen Tätigkeiten nachgingen und abends in den Felshöhlen verschwanden.

Manchmal sah er ihnen beim Füttern der zutraulichen Enten zu und wunderte sich, dass die kleinen Kerlchen auf ihnen bis hinunter in die Stadt reiten durften.

An diesem verhängnisvollen Tag, als Herr Wild wieder einmal mühevoll die Karre mit den Milchkannen ziehen wollte, waren sie plötzlich da.

Ohne viel Federlesens schoben sie ihn beiseite und verrichteten dessen Arbeit, schwitzten, prusteten, stießen sich lachend an und freuten sich über das verdutzte Gesicht des Milchmannes, der sein Glück nicht fassen konnte.

Zum Dank für ihre Arbeit erhielten sie aus dem tiefen Milchbrunnen kühle, köstliche, süße Milch und Eis so viel sie wollten. Gestärkt liefen sie danach zum Ufer, riefen ihre Freunde, die Enten, und ließen sich auf die andere Naheseite übersetzen.

So ging das den ganzen Sommer über, und Herr Wild hatte mit Heinrich, dem Ältesten der Kerlchen, mit Kalli, Hans und Herbert, sowie mit deren Freundin Finchen eine innige Freundschaft geschlossen.

Als es Herbst wurde, sich träger Nebel über die Nahe und die Roseninsel legte, schloss Herr Wild das Milchhäuschen. Er war alt geworden, und schließlich konnte er nicht immer mit der Hilfe seiner Freunde rechnen. Am letzten Abend saßen sie zusammen und beratschlagten.

Die Eisvorräte waren aufgeschleckt, und die Stimmung trübe.

Finchen konnte nicht dabei sein, lag mit einer Erkältung zu Bett, die sie sich in der kalten, zugigen Wohnhöhle eingehandelt hatte. Herr Wild überlegte hin und her und hatte schließlich eine geniale Idee:
Die Freunde könnten doch in das nun leere Milchhäuschen einziehen. Da hätten sie es warm und gemütlich, und viel besser als dort oben zwischen den kalten Felsen. Leise müssten sie sein, dürften sich tagsüber keinen Menschen zeigen und sich nur des Nachts draußen aufhalten.
Nach reiflicher Überlegung waren alle mit dem Vorschlag einverstanden. Sie legten als Zeichen beschwörend ihren rechten Zeigefinger auf die zusammengepressten Lippen.

So kam es, dass die Kerlchen mit Decken, Kissen, Kochtöpfen und Handwerkszeug in das mit weißen Zinnen bewehrte, verwunschene Milchhäuschen eingezogen und sich hie und da auf ihren Ausflügen in die Stadt nützlich machten.

Kalli, der Vorwitzigste unter ihnen, trieb sich allerdings öfters in der Stadt herum. In der Dämmerung zog es ihn zu den hell erleuchteten Häusern. Er liebte es, wenn aus den Gaststätten Musik erschallte und die Menschen beim Umtrunk fröhlich beisammen saßen.

Unter den Brückenhäusern, seinem Lieblingsplatz, gefiel es ihm besonders gut. Manchmal war er unvorsichtig, und so ein Zecher glaubte zu träumen, wenn ihn ein Kerlchen mit roten Hosen, lila Jäckchen und schwarzer Baskenmütze vorsichtig an der Hand nach Hause geleitete.

Ohne dieses Geleit wäre so mancher Mann im eiskalten Mühlenteich gelandet.
Schließlich kam es öfters vor, dass ein Wirthausgast, voll des guten Kreuznacher Weines, Wirklichkeit und Träume verwechselte.

Am nächsten Morgen hätte dieser geschworen, dass ein kleines Männchen ihn geschützt habe. Er wurde für verrückt erklärt. „Du hast wohl ein gutes Kreuzelmännchen getroffen“, hieß es dann ein wenig spöttisch. Von da an machte das Gerücht, es gäbe hilfsbereite Kreuzelmännchen, in der Stadt die Runde.

Nun wohnten die kleinen Kerlchen schon lange Zeit auf der Roseninsel, und sie ließen sich, wie versprochen, tagsüber draußen nicht blicken. Nur bei Dunkelheit wagten sie sich hinaus, liefen über den grünen Rasen und pflückten die verdorrten Rosenblüten ab, damit die Sträucher wieder neue Knospen treiben konnten. Busch für Busch nahmen sie sich den Sommer über vor und freuten sich, wenn die Besucher stehen blieben und die bunten Blüten beschnupperten.

Aber jetzt, jetzt gab es keine Blüten mehr. Die Gärtner hatten die Sträucher geschnitten. Bald würde der Winter kommen mit seinen langweiligen Abenden.
Arbeitslos würden sie sein. An jenem Abend im Herbst saßen sie um das warme Feuer und hingen ihren Gedanken nach.

Hans, der mit dem dicken Bauch, schürte die Glut und starrte in die Flammen. Er überlegte, wie er mit seinen Mitbewohnern der langen düsteren Jahreszeit ein Schnippchen schlagen könnte. Lange hatten sie gemeinsam darüber diskutiert, und endlich kam Hans die zündende Idee.

Die Menschen in seiner Heimatstadt Bad Kreuznach sollten nicht wie in all den vergangenen Jahren mit winter-traurigen Gesichtern von Geschäft zu Geschäft hetzen. Sie sollten lachen und fröhlich sein, miteinander reden. Schließlich nahte mit Riesenschritten die Advents- und Weihnachtszeit.

Finchen, Kalli und Herbert gefiel der Gedanke. Schließlich hatten sie Übung darin Überraschungen zu bereiten. Hatten die Gärtner sich nicht auch gefreut über die sommerliche Rosenpflege?! Hin und her überlegten sie, bis sie endlich ein Konzept gefunden hatten.

Heinrich, der Älteste, lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und wackelte bedächtig mit dem Kopf. Er sagte nichts dazu, grinste nur und paffte Rauchwolken aus seiner Meerschaumpfeife, die er genüsslich schmauchte.

Kalli, der Schelm, hatte heimlich einen Schluck Rum in jede Milchtasse geschüttet. Sie verfügten über einen riesigen Vorrat Milch im Pumpenhauskeller, der durch die vorbei- fließende Nahe gekühlt wurde. Mit Milch hielten sie sich stark. Ist es der Schuss Rum gewesen, der ihnen an diesem Abend so viele neue Ideen brachte?

Jeden Tag im Advent sollten sie eine gute Tat vollbringen, schlug Herbert vor. Na ja, meinte Heinrich, der Älteste unter ihnen, jeden Tag Freude bereiten, das sei schon sehr schwierig und arbeitsaufwändig. Es wäre zu überlegen, ob sie nicht an den Adventssonntagen den Bad Kreuznacher Bürgern ein richtiges Geschenk machen sollten und damit Freude bereiten könnten.

Schneien müsste es aber, meinte Finchen, ohne Schnee sei doch alles nur halb so romantisch. Ach Finchen, sie hatte es mit der Romantik! Alle sahen es ihr nach, wenn sie zur Weihnachtszeit das Innere des Milchhäuschens in eine Glitzerwelt verwandelte.

Die Kerlchen redeten sich in dieser Nacht die Köpfe heiß, und schließlich hatten sie einen Plan.
Kalli holte Papier und Bleistift für Notizen. Finchen hangelte das Backbuch ihrer Großmutter vom Regal. Backen wollte sie, eine himmlische Bäckerei würde in der Weihnachtszeit in dem alten Milchhäuschen entstehen.

Riesige Mengen süßer riesiger Brezel sollten es werden mit glänzender Zuckergussschrift und ordentlich Hagelzucker als Dekor! Finchens Augen glänzten, und ihre Wangen leuchteten so rot wie frische Äpfel.

Äpfel! Das war das Stichwort für Heinrich! Nein, keine einfachen Äpfel sollten es sein! Nur besonders gute Früchte würde er aussuchen. Ja, Marzipan, Rum und Honig, Mandeln und Rosinen, die benötige er auch!

Die riesigen Tannenbäume der Stadt und im Kurpark, die müssen unbedingt ganz besonders schön geschmückt werden. Da waren sich alle einig. Hans, der mit dem dicken Bauch, schaute an sich herunter. Er war der Bequemste unter ihnen und meinte, so dick wie sein Bauch müssten die Kugeln schon sein, wenn man alle Weihnachtsbäume in der Stadt schmücken wolle.
Weil er die meiste Puste hatte wurde er dazu verdonnert, beim Glasbläser vorbeizuschauen und die buntesten und dicksten Kugeln zu fabrizieren. Das war eine echt schwierige Aufgabe. Aber Hans, der würde das schon hinkriegen!

Kalli war der Handfestere unter ihnen, und sein Wahlspruch war, gutes Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen. Er wolle die Zutaten für leckere Fleischwurst besorgen und dann ja, dann…! Kalli verdrehte die Augen und hob die Nase als ob er den verführerischen Duft bereits schnuppere.

Es war eine lange Nacht. Kalli, Hans, Herbert, Heinrich und Finchen waren müde und glücklich darüber, dass sie bald mit der Arbeit beginnen konnten.

Nur für den Heiligen Abend selbst, da wollten sie sich etwas ganz Besonderes ausdenken. Darüber mussten sie erst noch nachdenken!

Spät in der Nacht, als Mondlicht das Milchhäuschen einhüllte und der Himmel voller funkelnder Sterne war, krochen die kleinen Kerlchen endlich in ihre Schlafdecken.

Vorbereitungen mussten getroffen werden. Es gab mächtig viel zu tun während der Nächte, denn noch immer ließen sich die kleinen Freunde tagsüber, wie sie es Herrn Wild versprochen hatten, draußen nicht sehen.

Viel zu rasch verging die Zeit. Finchen saß auf dem Turm hinter den Zinnen des Milchhäuschens und hielt ungeduldig nach Schneewolken Ausschau. Schnee, der war unabdingbar! Schnee gehörte zur Advents- und Weihnachtszeit! Das war schon immer so!

Regenwolken jagten durch das Nahetal, zerrten an den Bäumen und rissen die letzten Blätter der Rosensträucher ab. Kahl und dunkel ragten Äste und Zweige in den trüben Himmel.
Finchen jedoch gab die Hoffnung nicht auf. Er kam ganz bestimmt, denn ihre Nase hatte ihn eben erschnuppert, und außerdem spürte sie einen stechenden Schmerz im rechten Kleinzeh, ein untrügliches Zeichen für den kommenden Schneefall. Beruhigt legte sie sich schlafen. Beim Ruf der Käuzchen schlief sie ein.

Der erste Advent stand vor der Tür, und Finchens Kleinzeh war der richtige Wettermelder. Bereits am Samstag schneite es, zuerst vereinzelte Flocken zwischen dicken Regentropfen. Die Menschen in den festlich geschmückten Straßen der Stadt eilten schweigend und mit sich selbst beschäftig durch die Fußgängerzone. Schließlich wurde der Schnee dichter und ertrank nicht mehr in den Regenpfützen. Er legte sich auf die Dächer und die Mützen der Menschen. Selbst auf den Dächern der Brückenhäuser lagen weiße Schneehauben wie Zuckerguss.

Am ersten Advent war das Erstaunen unter den Bürgern groß. Überall an den Haustüren hingen am Morgen frisch duftende, pralle Fleischwurstringe. Die Bewohner standen auf den Straßen und rätselten, wer wohl in der Lage gewesen sei, in nur einer Nacht so viel Worscht zu verteilen und warum? Wer macht so etwas und mit welcher Absicht?

Nachbarn, die jahrelang kein Wort miteinander gewechselt hatten, sprachen wieder miteinander. Immer wieder hörte man hinter vorgehaltener Hand das Wort „Kreuzelmännchen“ raunen.

Am Nikolaustag lag über der Stadt der köstliche Duft von Bratäpfeln. Fragend schauten sich die Kreuznacher an. Sie schnupperten und folgten dem Duft bis zum Eiermarkt. Auf dem romantischen Weihnachtsmarkt war noch über Nacht ein neuer Stand aufgebaut worden, in dem ein riesiger Herd wohlige Wärme verbreitete. Kein Verkäufer war zu sehen. Der verwaiste Stand war bestückt mit rotbackigen Bratäpfeln, die verführerisch nach Marzipan und Rosinen dufteten und zum Verzehr einluden.. Schließlich durften sich die Schulkinder an den leckeren Äpfeln laben. Verderben lassen wollte man sie nicht.

Nie hat man erfahren, wer diesen Stand aufgebaut hat. Jedoch hielt sich hartnäckig das Gerücht von den Kreuzelmännchen in der Stadt.

Frau Holle meinte es in diesem Jahr besonders gut. Dicke Flocken schneite es, und die Bürger kamen mit dem Schneeräumen nicht nach. Die Bad Kreuznacher staunten nicht schlecht, als am Adventssonntag die Bürgersteige blitzeblank vom Schnee gefegt waren. An den Brückengeländern entdeckten sie riesige Lebkuchenherzen. Hübsch sahen sie aus. Beim näheren Hinsehen konnte man die Aufschrift lesen: „I like KH“.

Da hat sich aber jemand Mühe gemacht, dachten sie. Einer alleine schafft das gar nicht so viele Lebkuchen herzustellen und mit weiß glänzendem Zuckerguss zu beschriften. Wahnsinn! Freude kam in der Stadt auf. Schließlich verschwanden die Leckereien in den Bäuchen der Kreuznacher. Wieder blieb die Frage: „Wer ist das gewesen?“

Zum Glück hatte es nicht mehr so viel geschneit. Die kleinen Kerlchen atmeten auf. So ging ihnen die das Schneeräumen schneller von Hand. Die Stadt lag unter einer weißen Decke. Wenn es dämmerte und die Straßenlaternen leuchteten, glitzerte der Schnee so silbern, als bestünde er aus funkelnden Kristallen.

Am Adventssonntag warteten die Entchen in aller Frühe unter den Brückenhäusern, um die total erschöpften Kreuzelmännchen zu ihrem Zuhause zurückzubringen. Die Milch, und manchmal der Schuss Rum, gaben ihnen zwar viel Kraft, aber das ungewohnte Schneeräumen machte sie müde.

So muss es wohl gewesen sein, denn die geschwätzigen Käuze, die von ihrem Ausguck um die Burg alles beobachten konnten, hatten ihrer Freundin, der Wirtin vom „Käuzchen“ in der Altstadt im Vertrauen erzählt, dass kleine Männchen nachts den Schnee schaufelten.

Finchen dachte beim Einschlafen darüber nach, wie den Bürgern die süßen Brezeln mit dem bunten Zuckerguss gefallen würden, wieder hatten sie die Brückengeländer damit geschmückt und rote Filzsterne dazu gehängt.

An diesem Sonntag waren besonders viele Spaziergänger in der Stadt, im Kurpark und auf der Roseninsel. Sogar die Polizei fuhr ihre Runden und hielt Ausschau nach den „Kreuzelmännchen“, von denen man sich überall heimlich erzählte. Allerdings konnte sie nichts Verbotenes entdecken, nur frohe Gesichter.

„Habt ihr schon gesehen?“ Die Bürger tuschelten, keiner wagte es laut zu sagen. Diese Geschehnisse in der Stadt während der Vorweihnachtszeit waren schon mysteriös. „Der ganze Kurpark ist weihnachtlich geschmückt!“ Wieder ein Adventssonntag mit einer Überraschung. Überdimensionale große goldene Christbaumkugeln hingen an den Bäumen im Kurpark. Die Gaslaternen am Pavillon der Elisabethenquelle ließen den Park romantisch erstrahlen. An diesem Sonntag war Leben um das Kurhaus. Neugierige kamen aus allen Stadtteilen und bewunderten den Kurpark. Die Cafés und Weinstuben waren proppenvoll. Manche schütteln den Kopf, andere erfreuten sich einfach daran. Kreuzelmännchen, gibt es sie wirklich??

Mit großen Schritten nahte der Heilige Abend. Finchen und die kleinen Kerlchen waren im Stress. Der Höhepunkt der Überraschungen musste gut überlegt und vorbereitet werden, sollte ihr Plan nicht scheitern. Die schwierigste Hürde war, an den Schlüssel vom Radonstollen zu kommen. Heinrich, der Älteste wolle das mit Kalli erledigen. Aber irgendwie hatten die beiden es doch geschafft. Wie, das verrieten sie nicht!

Am Nachmittag des Heiligen Abend setzte erneut starker Schneefall ein. Die Bürger blieben zuhause, zündeten die Lichter an, bereiteten sich auf die Bescherung vor und auf den Gang zur mitternächtlichen Mette.

Als sie gegen Mitternacht, dick vermummt, die Mützen tief ins Gesicht gezogen und mit hochgestellten Mantelkragen aus der Haustür traten, trauten sie ihren Augen nicht.
In allen Stadtteilen waren wiederum die Bürgersteige vom Schnee befreit und auf ihnen lagen rote Filzsterne mit langem Schweif, die alle in eine Richtung deuteten und vor dem Radonstollen zusammenliefen. Der ganze Weg zum Eingang war von Tannenbäumchen gesäumt, die dicke Schneemützen trugen. Der Mond ließ die weiße Pracht aufblitzen wie ein Diamantteppich. Aus dem dunklen Inneren des Radonstollens drang leises Flüstern.

Einige Neugierige versuchten vergebens die tannenumkränzte Tür zu öffnen. Sie blieb verschlossen. Unruhe breitete sich unter den Wartenden aus. Was sollte das? Ungeduldig scharrten sie mit den Füßen und wollten gerade wieder gehen, da schlug die Turmuhr von St. Nikolaus zwölf Mal.

Die Menschen stießen sich an und zeigten auf die Stollentür, die sich langsam, wie von Geisterhand, öffnete. „Stille Nacht, heilige Nacht“ klang es zu ihnen heraus, und neugierig traten sie näher. Ihre Augen mussten sich zuerst an die Dunkelheit gewöhnen, ehe sie die Krippe vor der hinteren Felswand erblickten.

Von der Decke leuchtete ein roter Stern mit einem langen Schweif. Er glich genau denen, die ihnen den Weg hierher gezeigt hatten. Die Bad Kreuznacher rieben sich verwundert die Augen. Im Schein von hunderten flackernden Kerzen standen Maria und Joseph. War das die Möglichkeit? Der Joseph, das war doch…!

Ja, die Krippenbesucher hatten richtig gesehen. Joseph, das war doch der alte Herr Wild, bei dem sie früher im Milchhäuschen auf ihren Spaziergängen das leckere Himbeer- und Schokoladeneis gekauft hatten! Sein Rücken war von der Gicht gebeugt, und er musste sich auf seinen Stock stützen.

Finchen war es natürlich, die in das Gewand von Maria geschlüpft war. Beide trugen die Gewänder, in die sonst die Krippenfiguren Jahr für Jahr in der Kirche gekleidet waren.

Und das Jesuskind, bewegte es sich nicht, als Maria es in ihren Armen wiegte? In dem Stollen war es mucksmäuschenstill, nur die zarten Töne aus einer Panflöte waren zu vernehmen. Andächtig ließen sich die Besucher auf den bereitgestellten Bänken nieder und beobachteten Joseph, der die Hirten aus der Dunkelheit herbei winkte.

Sie kamen, traten mit ihren Schafen und Ochs und Esel zur Krippe hin, um das Kind zu begrüßen. Nun standen auch sie im hellen Schein der Kerzen. Doch, was war das? Die Bad Kreuznacher machten große Augen. Da vorne, das waren doch keine Hirten, wie sie sie von der Krippe in St. Nikolaus kannten, das waren doch…..! Das mussten sie ganz einfach sein, von denen sie seit Wochen immer wieder hörten und gesprochen haben, die kleinen Kerlchen mit den kunterbunten Jäckchen und Hosen und den schwarzen Baskenmützen!

So viele weihnachtliche Freuden hatten sie allen Menschen in der Stadt gemacht, und nun sogar eine lebende Krippe gestaltet! Im Radonstollen wurde es eng, immer mehr Kreuznacher hatten die Kunde vernommen und waren zur Krippe gekommen. Unfassbar! So etwas hatten sie noch nie erlebt. Es wurde eine wunderschöne Christmette, von der ein heimlicher, verwunschener Zauber ausging.

Auf dem Heimweg redeten alle miteinander, lachten sich an und meinten, sie hätten es immer schon gewusst, dass es sie wirklich gibt, die Kreuzelmännchen!

Und wenn man sie nicht verjagt hat, dann wohnen sie immer noch in dem weißen, mit Zinnen bewehrten Milchhäuschen auf der Roseninsel.

© Änne Fuhrmann
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